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Tief gefallener WeltmeisterEr verliess die Familie – und machte alles, was die Putzfrau befahl

Unter Beschuss: Der überführte Doper Johann Mühlegg verlässt Olympia 2002 in Salt Lake City fluchtartig. Danach? Ist er fast überall unerwünscht.

Der Mund offen, die Augen weit aufgerissen, der Blick starr. So fliegt Johann Mühlegg 2002 in Salt Lake City zwei Wochen lang durch die Loipen. Ob über 20, 30 oder 50 Kilometer, dreimal holt Mühlegg Olympiagold, hochüberlegen, die Sportwelt ist verblüfft. Halb Spanien ist aus dem Häuschen wegen «Juanito», wie der gebürtige Deutsche nach dem Nationenwechsel auf der Iberischen Halbinsel genannt wird. König Juan Carlos I. lädt ihn schon Monate vorher, als ersten spanischen Sportler, zu einer Privataudienz in seinen Palast ein.

Während Mühlegg in Salt Lake City durch den Schnee pflügt wie kein anderer, kündigt Ihre Majestät ein neues Treffen an. Es kommt nie dazu, bei einer Dopingkontrolle während der Spiele wird Mühlegg überführt, ein Epo-Derivat wird ihm nachgewiesen.

Der 31-Jährige beteuert seine Unschuld und irritiert mit einer merkwürdigen Theorie: Eine spezielle Diät habe er gemacht, drei Tage nur Kohlenhydrate, zwei Tage nur Proteine zu sich genommen. Zudem habe er eine Nacht lang an Durchfall gelitten, und die Höhenlage soll den Blutwert beeinflusst haben.

«Ewiger Vater, hilf mir»

Mühlegg flüchtet ins Reich der kuriosen Ausreden. Es sind Worte der Verzweiflung, wobei sie vielleicht gar ernst gemeint sind, längst hat sich der Athlet seine eigene Realität geschaffen.

Der medizinische Direktor des Internationalen Olympischen Komitees krümmt sich an einer Pressekonferenz fast vor Lachen, als er mit Mühleggs Theorien konfrontiert wird. Nach der Schlussfeier bestätigt die B-Probe das Verdikt, die Spiele haben ihren schlimmsten Dopingfall seit 1988, als Ben Johnsons Überführung nach dem Sieg im 100-Meter-Final von Seoul den Weltsport in seinen Grundfesten erschütterte.

In Spanien wird Mühlegg zur Persona non grata. Und die Deutschen sind froh, dass er nicht mehr ihr Problem ist, wobei sie diesen komplizierten Mann ohnehin nie ertragen konnten – so jedenfalls schreibt es der «Spiegel». 1989 und 1990 war Mühlegg Junioren-Weltmeister geworden, er galt als irrsinniges Talent, den Durchbruch im Weltcup aber schaffte er nicht. Es soll nicht an ihm gelegen haben, vielmehr an allem anderen.

Er läuft und läuft – gerät aber aus der Spur: Johann Mühlegg muss seine drei Olympia-Goldmedaillen zurückgeben und lebt fortan ein schwieriges Leben.

Johann Mühlegg ist ein gottesfürchtiger Mensch. Er liest jeden Tag in der Bibel, daheim im Esszimmer hängt das Kruzifix neben dem Abbild der Jungfrau Maria. Werden ihm in der Loipe die Beine weich, sucht er die Nähe zu Gott. «Ewiger Vater, hilf mir», sagt er dann meistens.

Immer ausgeprägter wird Mühleggs Hang zur Esoterik, zum Spiritismus. 1993 beginnt sein Streit mit dem Deutschen Skiverband, Mühlegg wirft Bundestrainer Georg Zipfel vor, ihn verflucht zu haben – die Anschuldigung schlägt ein wie Dynamit. Zipfel lade seine Geschenke mit Sprüchen auf, ihm werde deswegen übel, so posaunt es der Sportler in der Öffentlichkeit. Vieles wird ihm verziehen, vor allem sein Hang zum Übersinnlichen. Doch als er den Coach gar als Hexer bezeichnet, läuft das Fass über.

Er trinkt nur geweihtes Wasser

Das Unheil beginnt, als Mühlegg nur noch in Begleitung seiner portugiesischen Putzfrau auftritt. Sie heisst Justina Agostino, Mühlegg nennt sie nur «die Gnade», die Retterin und Führerin in sämtlichen Lebenslagen sei. Via diese habe ihm der ewige Vater mitgeteilt, dass Bundestrainer Zipfel nach seinem Leben trachte. Fortan reist Mühlegg nur mehr mit von «Gnaden-Hand» geweihtem Wasser durch den Weltcup, er trinkt es hektoliterweise, bis er sich übergibt. Manchmal badet er sogar in geweihtem Wasser.

Mühlegg leidet unter Verfolgungswahn, verschreibt sich dem Kampf gegen dunkle Mächte. Er wird suspendiert und wieder begnadigt, so geht das eine Zeit lang, so wird er zum Pflegefall des deutschen Sports. Finanzielle Zuschüsse werden gestrichen, Sponsoren ziehen sich zurück. Einige Trainer wollen nichts mehr mit ihm zu tun haben, sogar seine Ehe geht im übersinnlichen Nebel unter. 1998 folgt die Trennung vom Deutschen Skiverband.

Fortan läuft Mühlegg für Spanien. Er bleibt eigenwillig, ein schwieriger Charakter, am liebsten trainiert er für sich. Und zwar in Umfängen, die verblüffen. «Er lief vormittags 60 Kilometer und wollte am Nachmittag richtig trainieren», so sagt das Jochen Behle, ehemals sein Teamkollege und Trainer, mittlerweile TV-Experte bei Eurosport.

Kurz vor der Jahrtausendwende startet Mühlegg durch. Innert zwei Jahren gewinnt er sieben Rennen und den Gesamtweltcup, 2001 wird er in Lahti Weltmeister über 50 Kilometer. Die Putzfrau bleibt an seiner Seite, bald aber klingeln Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei an deren Tür, wegen Verdachts auf unerlaubte Ausübung von Heilkunde.

Als «Allgäu-Torero» wird Mühlegg bezeichnet, bald aber gilt er als rätselhaftester Langläufer der Geschichte. «Die tragische Wende vom Jahrhunderttalent zum Dopingsünder wäre nicht nötig gewesen», sagt Behle. «Johann war derart überlegen, er hätte auch ohne verbotene Substanzen gewonnen. Er hätte die Langlauf-Welt über Jahre beherrschen können, fast so wie einst Björn Daehlie.» Mühlegg sei extrem begabt gewesen, aber er habe unheimlich viel verbockt. «Er driftete ab. Und er war nicht der Hellste, daran ist er gescheitert.» Mühlegg läuft und läuft, gerät aber im Leben aus der Spur.

Nach der Überführung in Salt Lake City wird Mühlegg zwei Jahre aus dem Verkehr gezogen. Noch vor Ablauf der Sperre tritt er zurück. Und sagt einige Jahre später, er habe kein schlechtes Gewissen.

Das neue Leben in Brasilien

Mühlegg hätte eine lebende Legende werden können. Geworden ist er ein Phantom. Er zieht sich zurück, spricht wenig. Später erscheint seine Biografie, der Titel: Allein gegen alle.

Viel Geld verliert er nach dem Dopingskandal, drei Millionen Franken sollen es diversen Medienberichten zufolge sein. Seine Mutter verliert ihren Job in einem Steuerberaterbüro, dem Bruder werden die Autoreifen zerstochen, lange findet er wegen des beschmutzten Namens keinen Zahnarzt, der ihn behandeln will. Die Familie erhält gar Morddrohungen.

Um Mühlegg selbst ranken sich derweil diverse Gerüchte. Erst heisst es, er bestreite in Bayern Volksläufe unter falschem Namen, später wird erzählt, er verkaufe christliche Holzschnitzereien und arbeite als Tourguide in Südtirol. Schliesslich soll er Surflehrer in Südamerika sein.

Seine Mutter erzählt der Zeitung «Bild» vor zwei Jahren aus dem Leben ihres Sohns – dass er zwischenzeitlich in Portugal lebte, längst aber in Brasilien sesshaft sei. Er habe eine Baufirma aufgebaut, die meisten Angestellten seien Analphabeten. Mühlegg lebt in der Küstenstadt Natal, ist verheiratet und hat eine Tochter. Die Mutter sagt: «Johann hat ein hartes Leben. Aber er boxt sich durch.» In Deutschland soll er seit Jahren nicht mehr gewesen sein.

Während der Fussball-WM 2014 in Brasilien kriegt Mühlegg Besuch von Journalisten der schwedischen Zeitung «Expressen»; es gibt ein kurzes, sehr merkwürdiges Gespräch, der einstige Loipen-Held wirkt wirr. Über das, was geschehen ist, will Mühlegg nicht sprechen. Er sagt nur: «Ich habe diese Welt für immer verlassen.»