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Nach Hirnschlag wieder Weltklasse«Meine grösste Angst war: Was passiert mit dem Baby?»

In der berauschenden Natur: Judith Wyder im Juli auf dem Weg zum Sieg am Dolomiten-Run.

Sie hat nie daran gedacht, dass dies ein Ziel sein könnte. Und doch ist Judith Wyder jetzt da, an der ligurischen Küste bei Spotorno. Ihre beiden kleinen Töchter sind mitgekommen, ihr Ehemann und auch das Au-pair, das die Familie unterstützt. Es ist windig und regnerisch, aus dem Bädele im Meer ist für die Kinder nichts geworden. Aber darum geht es jetzt auch nicht in erster Linie. Nun geht es für die Mutter ums Saisonfinale der Golden Trail World Series. Judith Wyder, die 35-jährige Bernerin, kann die Gesamtwertung dieser prestigeträchtigen Trailrunning-Serie heute gewinnen. 

Es wäre schon das zweite Mal nach 2019 – aber eben, ein Ziel? Nein, darum geht es ihr nicht nach ihrer schicksalhaften und gewaltig einschneidenden Geschichte. Judith Wyder sagt: «Ich bin extrem dankbar, dass ich hier bin, das ist ein Geschenk. Es war aber auch harte Arbeit, die ich mit sehr viel Lust angegangen bin.»

Der verhängnisvolle Weihnachtstag

Die einstige OL-Läuferin, fünfmal Welt- und sechsmal Europameisterin, findet, bei den Bergläufern sei sie jetzt am richtigen Ort, «Kartenlesen ist für mich schwieriger geworden».

Judith Wyder hat am Weihnachtstag 2019, vor nicht einmal vier Jahren, einen Hirnschlag erlitten. Die heftigen Kopfschmerzen, die sie schon beim Abendessen plagten, wollte sie nicht mit allzu vielen Medikamenten bekämpfen, «weil ich im vierten Monat schwanger war». Und abnormal war das Ganze für sie ohnehin nicht, Migräneanfälle behinderten sie seit Jahren. Als es am nächsten Tag im Kopf jedoch weiterhämmerte und Tabletten nichts nützten, forderte sie ihr Mann, Gabriel Lombriser, dazu auf, jetzt doch ins Spital zu gehen. 

Und dann die Widersprüche. «Puls, Blutdruck, Blutwerte – alles war normal. Erst als mir der Arzt ein Rezept für ein Medikament schrieb und ich dieses nur verschwommen sah und nichts lesen konnte, wurde seine Einschätzung eine andere», erzählt Judith Wyder. Zur Sicherheit wollte er ein Computertomogramm des Kopfes machen – und entdeckte dabei in der hinteren linken Hirnhälfte einen grossen weissen Fleck. Dort wurde das Hirn nicht mehr durchblutet, dort fehlte ihm der Sauerstoff, dort waren Hirnzellen abgestorben.

Judith Wyder hat sich nach dem Gymnasium, das sie nach drei Jahren in Schweden mit der Matura abschloss, in der Schweiz zur Physiotherapeutin ausbilden lassen. Sie kennt den menschlichen Körper und seine Funktionen daher bestens, sie hat ihn auch in vielen Jahren OL-Karriere bereits kennen gelernt. «Was damals aber passiert ist – ich habe das erst gar nicht richtig gecheckt, ich habe auch eine ziemliche Erinnerungslücke», sagt sie. 

Den sturmen Kopf beschäftigten schnell tausend Fragen.

Es folgten im Spital Tage mit vielen neurologischen Untersuchungen, sie litt noch länger am Kopfweh. Ihre Sehkraft war durch den Schlaganfall eingeschränkt, und sie verspürte eine leichte Lähmung im rechten Bein. Den sturmen Kopf beschäftigten aber schnell tausend Fragen: Habe ich mich zu sehr verausgabt? Wieso ausgerechnet ich? Warum in so jungen Jahren? Werden die Augen je wieder gut werden? Werde ich je wieder im vorherigen Ausmass Sport treiben können?  

Sie sagt: «Meine grösste Angst aber war: Was passiert mit dem Baby?» 

Die Gynäkologin konnte ihr nach einer Ultraschalluntersuchung die Angst und Ungewissheit nehmen. «Sie hat sehr gut reagiert und mir schnell Vertrauen gegeben, dass alles gut kommt.» Und dann geschah das, was Judith Wyder noch heute zu Tränen rührt: «Ich spürte Jonna, das Baby, erstmals in diesen Tagen im Spital. Sie zeigte mir, dass es sich lohnt, zu kämpfen.» 

In diesen Tagen realisierte sie aber auch, wie wenig belastbar sie geworden war. «Nur schon ein Gespräch von ein paar Minuten strengte mich wahnsinnig an», sagt sie. Und dennoch ging sie danach einen völlig atypischen Weg für jemanden mit Hirnschlag: Sie durfte nach fünf Tagen nach Hause – ohne Reha. «Ich funktionierte ja, konnte gehen, sprechen, am Compi zwar nichts machen und auch nicht Auto fahren. Ich fragte mich später aber schon, ob das richtig gewesen war.»

Der Lockdown im März 2020 kam ihr entgegen

Denn: Der absolute Bewegungsmensch war zum Stillstand gekommen. Bereits kurze Spaziergänge ermüdeten sie so sehr, dass sie sich hinlegen musste. Die eingeschränkte Leistungsfähigkeit zermürbte sie, die Motivation schwand. Die Betreuung der zweijährigen Linn, der Haushalt, aber auch das Running-Unternehmen, das sie mit ihrem Mann betreibt, alle Arbeit, die anfiel, übernahm er. «So blöd es tönt, aber der Lockdown im März 2020 war dann unser Glück», sagt sie. «Er gab uns Ruhe, ich konnte viel schlafen, hatte null Verpflichtungen – ohne ihn hätte ich oder hätten wir das wohl kaum geschafft.» Im Juni dann brachte sie in einer «ultraleichten Geburt» die zweite Tochter zur Welt.

Trotz unzähliger Untersuchungen konnten die Ärzte der Athletin und Mutter nicht sagen, was den Hirnschlag ausgelöst hat. Sie entdeckten jedoch ein sogenanntes Foramen ovale, eine Art Ventil, das man in frühkindlichem Stadium im Herzvorhof hat und das sich bei den meisten Menschen nach der Geburt schliesst und verwächst. Bei Judith Wyder jedoch nicht. Das kleine Loch hat bei ihr, so vermuten die Ärzte, einem Gerinnsel Durchgang verschafft. Es ist die wahrscheinlichste Erklärung in ihrem Fall.

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Es wirkt wie ein Wunder, dass Judith Wyder den langen Weg zurück zur Weltklasseathletin geschafft hat. Rund ein Jahr nach dem Vorfall kam sie auf etwa 80 Prozent ihrer einstigen Leistungsfähigkeit, im Sommer 2021 folgten die ersten Wettkämpfe. Sie sagt von sich, sie sei ein Mensch, der die Herausforderungen liebe – privat, sportlich oder beruflich. «Das war schon so, als ich mit 16 nach Schweden ins Sportgymi ging. Nach einem Monat sprach ich fliessend Schwedisch – weil ich halt auch dazugehören und die Witze der anderen verstehen wollte.» Sie fügt an, dass sie es sich auch heute einfacher machen könnte – als Mutter, Läuferin und Mitinhaberin eines Geschäfts, das Laufwochen, Kurse, Coaching und mehr anbietet. «Doch das fordert mich, ich brauche diese Balance.» 

Spuren des Schlaganfalls sind jedoch geblieben. Am rechten Auge hat Judith Wyder rechts oben noch immer einen kleinen Fleck, wo sie nichts sieht – deswegen wäre Kartenlesen heute schwieriger. Zudem hat ihre Erinnerungsfähigkeit gelitten. «Früher habe ich nie einen Termin vergessen. Heute muss ich mir alles aufschreiben.» Hingegen sind weder Angst noch Zweifel zurückgeblieben. «Im Gegenteil. Ich bin dankbar, dass es nicht schlimmer war, dass ich nicht eine typische Schlaganfallpatientin war und dass ich wieder so aktiv sein kann, wie ich es zurzeit bin.» 

Judith Wyder, die im Sommer an der WM im Trail Short über 45 km (der lange ging über 86,9 km) und mehrere Tausend Höhenmeter Silber gewann, betont noch einmal, dass es nie ihr Ziel gewesen sei, sportlich dorthin zurückzukehren, wo sie zuvor gewesen war. Sie sagt: «Ich gehe keine Risiken mehr ein. Dabei spielt die Familie eine grosse Rolle.» Kein Risiko? Das ist für Laien schwer vorstellbar, wenn man sie auf ihren Läufen beobachtet. Wie sie da flink über Matten, Geröllhalden und Felsen aufsteigt, um danach den Berg hinunterzufliegen – als wäre nie etwas gewesen.