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Film «Zimmerwald»Die Weltgeschichte war da, bloss kümmert das im Dorf niemanden

Dieser Artikel wurde zum ersten Mal am 14. Januar veröffentlicht. Aufgrund der Berner Kinovorstellungen publizieren wir ihn erneut.

«Leningrad UdSSR grüsst Leningrad Schweiz»: Über viele Jahre erhielt das Dorf Zimmerwald Fanpost aus dem Ostblock.

Mal ist es ein Rennvelo, mal ein Traktor, mal ein Lieferwagen: Zimmerwald ist ein Dorf, wo viel durchgefahren wird. Und wenn der Motorenlärm verstummt, tritt wieder Stille ein.

Einmal allerdings, da hat die Weltgeschichte hier haltgemacht, das war im Jahr 1915, während ausserhalb der Schweiz der Erste Weltkrieg tobte. Im Zimmerwalder Hotel Beau Séjour trafen sich ein paar Dutzend Delegierte verschiedener Länder zu einer Geheimkonferenz; getarnt waren sie als Ornithologen. Ihre Absicht: die Arbeiterklasse zum Kampf für den Frieden aufzurufen. Lenin war dabei, Trotzki auch.

Geschichte ist etwas, was anderswo passiert

Das Treffen wurde später in der Sowjetunion als Geburtsstunde der kommunistischen Internationalen gefeiert. Menschen aus dem Ostblock schickten Fanpost ins «Leningrad der Schweiz», und auf gewissen Weltkarten war Zimmerwald der einzige Ort, der in der Schweiz eingezeichnet war.

Eine geschichtsträchtige Sache also, könnte man meinen. Heute erinnert im Dorf daran: nichts.

Die Filmemacherin Valeria Stucki ist in der Nähe von Zimmerwald aufgewachsen und erfuhr erst als Erwachsene von der Konferenz. «Ich bin mit dem Gefühl gross geworden, dass Geschichte etwas ist, was anderswo passiert», sagt sie am Telefon. «Als ich dann Kenntnis hatte von diesem Ereignis, interessierte es mich, warum das Dorf nicht Teil dieser Geschichte sein will und wie es damit umgeht.»

Filmemacherin Valeria Stucki ist in der Nähe von Zimmerwald aufgewachsen.

In «Zimmerwald», ihrer ersten längeren Regiearbeit, blickt die 40-Jährige, die zwischen Genf und Bern pendelt und auch als Filmerin fürs Theater arbeitet, einer Handvoll Sekundarschülerinnen und Sekundarschüler über die Schulter, die für eine Projektarbeit recherchieren. Wir sehen sie, wie sie Archivmaterial sichten, alte Fernsehbeiträge anschauen, eine Historikerin befragen. Im Dorf steigen sie aus dem Postauto, sprechen scheu Passanten an, schauen sich fragend um.

Sie versuchen, etwas in Erfahrung zu bringen über ein Ereignis, das keinerlei sichtbare Spuren hinterlassen hat. In Zimmerwald gibt es kein Denkmal, keine Informationstafel, und auch der Ort des Geschehens existiert heute nicht mehr: Das Hotel Beau Séjour musste 1971 dem Parkplatz eines Neubaus weichen. «Vielleicht war man gar nicht so unglücklich, ein Haus mit einer solchen Vergangenheit zu verräumen», mutmasst im Film der Gemeinderat, der den Jugendlichen die Stelle zeigt.

Ein Dorf hat keine Geschichte

Trotzdem tragen diese einiges an Wissen zusammen. 1965, als das 50-Jahr-Jubiläum der Konferenz anstand, sträubte man sich in Zimmerwald davor, zur Pilgerstätte für Sowjetbegeisterte zu werden – es herrschte der Kalte Krieg.

Eine Moskauer Delegation wurde ausgeladen, und man organisierte eine «demokratische Gegenkonferenz», von der vor allem eine Rede in Valeria Stuckis Film zentral ist: jene des damaligen Gemeindepräsidenten Fritz Brönnimann. Er sagte darin, ein Dorf habe «keine Geschichte», und grosse historische Ereignisse seien für Orte wie Zimmerwald «kaum mehr als ein Wellenschlag».

Jugendliche recherchieren im Film die Zimmerwalder Konferenz.

«Dass man sich ausserhalb der Geschichte wähnt, nichts mit ihr zu tun haben will – schon gar nicht mit linker Geschichte –, das scheint mir etwas, was über Zimmerwald hinausgeht», sagt Valeria Stucki. Jene Schweiz, die sich aus allem heraushält: Sie kommt in «Zimmerwald» zum Vorschein.

Das helvetische Einigeln zeigt sich zum Beispiel darin, dass es manchen Zimmerwaldern schon nur schwerfällt, über jenen Moment der Weltgeschichte zu sprechen: Es wirkt manchmal fast komödiantisch, wie krampfhaft die Bedeutung der Konferenz heruntergespielt wird. Was wusste die Grossmutter über die speziellen Feriengäste zu erzählen? Nichts Spezielles, sagt ein älterer Mann achselzuckend, das habe einen damals einfach nicht interessiert. Was er von einer Gedenktafel halte? Nichts, sagt ein anderer. Es sei nicht im Sinn seiner Vorfahren.

Gedenk- oder Informationstafel?

Trotzdem diskutiert der Walder Gemeinderat am Ende des Films über die Schaffung einer solchen Tafel – die Jugendlichen haben ihn in einem Brief darum gebeten. Valeria Stucki filmt die Sitzung formal streng, indem sie die Räte einzeln bei ihren Voten zeigt. Dadurch betont sie die Gemachtheit ihrer Bilder. Und den Umstand, dass ihr Film ebenso ein Konstrukt ist wie die Geschichte selber.

Das Gremium spricht sich gegen eine Gedenktafel aus. Es gebe nichts zu glorifizieren, man wolle keinen Wallfahrtsort schaffen. Im schönsten Amtsstubenton einigt es sich aber auf das Anbringen einer schlichten Informationstafel.

Zu Ende ist die Geschichte damit aber nicht. Das Vorhaben wurde «bis auf weiteres» verschoben, wie es im Abspann heisst. Als Russland die Ukraine angriff, fand es der Gemeinderat unangebracht, zu diesem Zeitpunkt eine Tafel anzubringen.

Ganz unberührt von der Weltpolitik ist ein Dorf eben doch nicht.

«Zimmerwald» läuft am 21. und 23. Januar an den Solothurner Filmtagen sowie ab 22. Januar im Filmpodium Biel. Premiere in Bern: 7. März, Kino Rex, Podium mit der Regisseurin, dem Produzenten David Fonjallaz und der Historikerin Julia Richers (ausverkauft); weitere Vorstellungen in Bern am 9./10.3., im Kino Rex Thun am 8.3.