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Lugano-Captain Calvin Thürkauf Er wurde ausgemustert, dann veränderte ein Telefonat sein Leben

Ein Naturbursche: Calvin Thürkauf posiert in den Tessiner Wäldern.

Es waren bittersüsse Tage für Calvin Thürkauf im Frühling 2021. Sein EV Zug stürmte im Playoff zum ersten Meistertitel seit 23 Jahren, doch der wuchtige Stürmer musste tatenlos zuschauen. Er wäre im Verlauf des Viertelfinals wieder einsatzbereit gewesen, nachdem er sich von einem Schienbeinbruch erholt hatte, aber Coach Dan Tangnes verzichtete auf ihn. Thürkauf reiste an die Spiele mit, falls er gebraucht würde. Vergebens. «Ich verstand es», sagt er. «Ich hatte drei Monate gefehlt. In dieser Zeit hatten sich andere empfohlen.»

Derweil der EVZ seinen Triumph feierte, sorgte sich der 23-Jährige um seine Zukunft. Die Zuger wollten ihn nach einer für ihn persönlich enttäuschenden Saison nicht mehr behalten, sein Agent Sandro Bertaggia (4 Sports) sondierte den Markt, stiess aber zunächst auf kein Interesse bei der Konkurrenz. Thürkauf begann mit dem Sommertraining und fragte sich: «Bekomme ich noch irgendwo einen Vertrag? Ich war sowieso frustriert wegen meiner Verletzung, und irgendwann kam der Moment, an dem ich dachte: Ist es das gewesen? Muss ich jetzt beginnen zu arbeiten?»

Mit 18 nach Kanada ausgezogen

Während seiner Verletzungspause hatte er, ein Kraftpaket von 1,88 Metern und gegen 100 Kilo, das Diplom als Personal Trainer gemacht. Vielleicht war das ja seine neue Bestimmung. Er überlegte sich auch, in einem Reisebüro noch seine kaufmännische Lehre abzuschliessen.

Abklatschen mit den Teamkollegen: Calvin Thürkauf hat in der Qualifikation 28 Tore geschossen.

Thürkauf hatte früh aufs Eishockey gesetzt, war mit 18 nach Kanada ausgezogen, um beim Juniorenteam Kelowna Rockets und später drei Jahre vornehmlich für die Cleveland Monsters zu spielen, das Farmteam der Columbus Blue Jackets. Seinen NHL-Traum erfüllte er sich mit drei Partien für Columbus. Und nun? War seine Reise im Eishockey vorbei?

In jenen Tagen des quälenden Wartens wurde Thürkauf wohl erst so richtig bewusst, was für ein Privileg es ist, das Hobby als Beruf auszuüben. Mehrere Wochen verstrichen, dann meldete sich Bertaggia mit dem Interesse aus Lugano. Möglicherweise hatte sich Sportchef Hnat Domenichelli, ein Kanadier, etwas genauer über Thürkaufs Wirken in Übersee informiert als seine Berufskollegen. Man einigte sich auf einen Dreijahresvertrag. «Ich musste nicht lange überlegen», sagt Thürkauf.

Der eine oder andere Sportchef dürfte sich dieser Tage ärgern, dass er im Frühjahr 2021 nicht zugegriffen hatte, als Thürkauf verzweifelt auf Angebote wartete. Denn dieser hat sich in Lugano zum dominantesten Spieler auf Schweizer Eis entwickelt. Die Captains und Coachs der 14 National-League-Teams wählten ihn in der exklusiven Umfrage der Tamedia-Zeitungen, die bereits zum 20. Mal durchgeführt wurde, mit Abstand zum wertvollsten Spieler (MVP) der Regular Season. Thürkauf erhielt 20 von 26 möglichen Stimmen und distanzierte den Freiburger Topskorer Marcus Sörensen (6) klar.

Das Captainamt als Kick

Vom Verschmähten zum MVP innert dreier Jahre, wie ist das möglich? «Es war eine kontinuierliche Entwicklung», blickt Thürkauf zurück. «Mein erstes Jahr in Lugano war viel besser als zuvor in Zug. Coach Chris McSorley setzte auf mich. So fand ich wieder Vertrauen in meine Fähigkeiten. Das zweite Jahr war ein Auf und Ab. Wir hatten Drama mit einer Trainerentlassung, das brachte Unruhe in die Garderobe und färbte auch auf mich ab. Danach nahm ich mir vor, konstanter zu werden. Und dass ich im vergangenen Sommer Captain wurde, gab mir einen zusätzlichen Kick. Ich wusste: Ich muss jeden Tag ein Leader sein, auf und neben dem Eis.»

Thürkauf ist zum Spieler geworden, der in allen Situationen voranschreitet. Mit seiner Wucht gewinnt er die meisten Zweikämpfe, er ist gradlinig, behauptet sich vor dem gegnerischen Tor und ist kaltblütig. In 52 Spielen traf er 28-mal. «Seine physische Präsenz ist eine seiner Stärken», sagt Coach Luca Gianinazzi. «Er ist ein Powerstürmer. Und in dieser Saison hat er offensiv grosse Fortschritte gemacht. Bei seinem Schuss, aber auch dabei, wie er das Spiel liest. Zudem ist er spritziger geworden.» 

Er schenkte Thürkauf das Vertrauen: Lugano-Coach Luca Gianinazzi machte den Stürmer zum Captain.

Das ist kein Zufall. Thürkauf stellte im vergangenen Sommer seine Ernährung um und nahm ab – von 100 auf 95 Kilo. Am Erpse Institut für Ernährungsdiagnostik in Winterthur liess er sich einen Ernährungsplan erstellen, den er im Sommer acht Wochen eisern durchzog. Zum Frühstück Haferflocken, Früchte und Mandeln, am Mittag Poulet, Kartoffeln und Gemüse, zum Abendessen Steak, Reis und wieder Gemüse. Zum Beispiel. Er reduzierte den Fleischanteil und ersetzte einfache Kohlenhydrate durch komplexe, also durch Vollkorn-Pasta, Quinoa, Kartoffeln oder Süsskartoffeln.

«Ich fühle mich besser, habe mehr Energie und fühle mich auf dem Eis agiler», sagt Thürkauf. Und Kraft habe er keine eingebüsst. Während der Saison befolgt er keinen Ernährungsplan mehr, aber er isst bewusster. Ab und zu eine Pizza gönne er sich aber, sagt er. «Du musst das Leben ja auch geniessen.» 

Gianinazzi hat mit seiner Wahl des neuen Captains ein goldenes Händchen gehabt. «Thürkauf verkörpert als Mensch und Spieler die Werte, die wir in Lugano wollen», sagt der Tessiner, der im Oktober 2022 McSorley ablöste. «Er will jeden Tag besser werden. Seine letzte Saison war nicht besonders gut gewesen, aber ich war überzeugt, dass er an der Captainrolle wachsen würde.» Eine Bedingung stellte Gianinazzi, mit 31 der jüngste Coach der Liga, seinem neuen Captain: Er müsse so gut Italienisch lernen, dass er TV-Interviews auf Italienisch geben könne.

Frisch verliebt in eine Tessinerin

Das nahm sich Thürkauf zu Herzen. Er besucht nicht nur den Italienischkurs, den der Club organisiert, er spricht inzwischen auch in seinem Privatleben meistens Italienisch. Dank der Liebe. Seit fünf Monaten ist er mit einer Tessinerin zusammen. «Seitdem habe ich massive Fortschritte gemacht im Italienisch», sagt er schmunzelnd. «Und wenn mir einmal ein Wort nicht einfällt, sage ich es auf Englisch.»

Nach seiner Jugend in der Zentralschweiz und den fünf Jahren in Nordamerika ist er im Tessin in die lateinische Kultur eingetaucht. «Hier ist alles ein bisschen lockerer», sagt er. «Auch hier arbeiten alle. Aber sie nehmen das Leben gelassener. Im Sommer wird hier der Apéro zelebriert. Das gibt es so nicht in der Deutschschweiz. Die Mentalität ist im Tessin eine andere. Das hat wahrscheinlich auch mit dem Wetter zu tun.»

Vergangenes Jahr kaufte sich Thürkauf zusammen mit einem Freund ein Motorboot auf dem Zugersee. In den letzten Monaten machte er zusammen mit Teamkollege Niklas Schlegel den Bootsführerschein auf dem Lago Maggiore. «Im Winter ist der See ruhiger», sagt Thürkauf. «Der Lago Maggiore kann tückisch sein. Wenn der Wind kommt, musst du schnell zurück in den Hafen.» Nach zwölf Lektionen legten sie die Prüfung ab und bestanden.

Thürkauf fühlt sich wohl als Captain. Nicht nur auf dem Eis, auch auf dem Wasser.