Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Ausgewandert nach Japan«Ich lasse mir mein Sackmesser nicht wegnehmen»

Bruno Humbel ist für einen Auftritt an seiner Universität festlich gekleidet.

Bruno Humbel, 67-jährig, fliegt in hohem Bogen durch die Luft und landet mit einem lauten Knall rücklings auf der Matte.

Das tut weh!

Wenn man nicht weiss, was man tut.

Doch Bruno weiss es genau. Ohne mit der Wimper zu zucken, springt er auf und bringt sich in Position, um sich gegen den nächsten Angriff zu verteidigen.

Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.

An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.

Der Schweizer und sein Kontrahent, beide mit schwarzem Gürtel, zeigen ihre Aikido-Techniken. Schauplatz ist eine Aula, in der Studierende und Dozierende verschiedene Tänze, Musikstücke oder eben auch Kampfkünste vorführen. Als sich Bruno und sein Trainingspartner verbeugen, ernten sie tosenden Applaus.

Das Okinawa Institute of Science and Technology, kurz OIST, gibt es seit über zwölf Jahren. Die renommierte Universität wurde von der japanischen Regierung an einen Hang dieses subtropischen Inselreichs gebaut, um kluge Köpfe aus aller Welt anzulocken.

Dem Ruf folgte vor fünf Jahren auch Bruno, der Aargauer lebte zuvor in Lausanne. Als er in der Schweiz keine berufliche Zukunft mehr sah, zog es ihn in den fernen Osten.

Das Angebot passt perfekt zu ihm: «Ich bin ein Asienfan!»

Er kennt Japan besser als viele Einheimische

Mich holt Bruno am Flughafen mit einem typisch japanischen Kompaktwagen ab. Er ist kein geübter Fahrer, in der Schweiz besass er nie ein Auto. Bruno war stets mit dem Zug unterwegs, pendelte als Student von Wettingen nach Zürich an die ETH.

Dort studierte er Biochemie. Physik hätte ihn ebenfalls interessiert, «doch dafür bin ich nicht schlau genug», sagt er und lacht, als er sein Fahrzeug auf die Schnellstrasse lenkt, die von Okinawas Hauptort Naha in den Norden führt.

Das Okinawa Institute of Science and Technology lockt kluge Köpfe aus der ganzen Welt an.

Der öffentliche Verkehr auf der Insel beschränkt sich ausserhalb der grössten Stadt auf Busse, die oft nur stündlich und verspätet verkehren. Auch mit dem Auto dauert es, die etwas mehr als 30 Kilometer zurückzulegen. Der Verkehr auf den überfüllten Strassen stockt, schnell wechseln Ampeln auf Rot.

Unterwegs sind neben den Einheimischen auch Touristen vom japanischen Festland, aus China, Korea oder Taiwan.

Dazu gesellen sich Autos, die speziell gekennzeichnete Nummernschilder tragen. Es sind jene des amerikanischen Militärs. Etwa 30’000 Soldaten sollen sich auf den verschiedenen Basen befinden, die 20 Prozent der Fläche Okinawas vereinnahmen und für die lokale Bevölkerung unzugänglich sind.

Blick auf das offene Meer. Bruno ist gerne auf seiner Insel unterwegs.

Bruno kennt die Geschichte der Amerikaner und die Probleme, die sie auf die Insel gebracht haben. Sowieso weiss er mehr über Historie, Kultur und Gesellschaft als manch Einheimischer. An seiner Universität wird der Professor demnächst einen Vortrag über Okinawa halten – natürlich auf Japanisch. Seine hiesige Japanischlehrerin findet, er sei dazu besser geeignet als sie.

Die Faszination für Japan beginnt beim Aargauer früh: Ein Schulfreund trainiert Judo, Bruno möchte den Kampfsport ebenfalls erlernen, doch er kann sich die Stunden nicht leisten. Mit seinem Bruder wächst er in einfachen Verhältnissen auf, seine alleinerziehende Mutter verdient wenig Geld. Also spielt er zuerst Volleyball.

Erst die ETH ermöglicht es ihm, Judokurse zu besuchen. Als Bruno nach seiner Doktorarbeit eine Assistenzprofessur im niederländischen Utrecht antritt, nimmt er sein Training wieder auf, in einem bekannten Dojo-Ableger, so heissen die Schulen für japanische Kampfkünste.

Ein bisschen wie Hawaii, einfach ohne vergleichbare Touristenströme: das ist Okinawa.

Fast täglich trainiert er Aikido, später beginnt er, abends nach Amsterdam zu fahren, um dort auch noch die Schwertkunst zu erlernen.

Ein Taifun steuert auf die Insel zu

Nach einer Stunde Autofahrt erreichen wir Yomitan. Seit 2018 lebt Bruno in dieser Stadt mit über 40’000 anderen Menschen. Seine Wohnung befindet sich im dritten Stock eines alternden Mehrfamilienhauses, das auf einer Reklametafel an der Hauswand für sein tolles Design angepriesen wird.

Die Wohnung ist klein und einfach eingerichtet; vom Balkon sieht man über die Häuserdächer bis aufs Chinesische Meer.

Shisa ist allgegenwärtig. Der Löwenhund hält nach der Mythologie das Böse fern.

Nebel hängt über Okinawa, was ungewöhnlich ist im Mai. Der Wind heult um die Ecken, schiebt dichte Wolken vor sich her, es nieselt. Über dem Pazifik braut sich ein Taifun zusammen, einer der grössten der letzten Jahre. Der tropische Wirbelsturm Mawar hat die amerikanische Insel Guam zerzaust und bewegt sich bedrohlich auf Okinawa zu.

Bruno hat bereits eine E-Mail von seinem Telekomanbieter erhalten, der Strom könnte ausfallen. Doch der Taifun wird sich in den nächsten Tagen zum Tropensturm abschwächen und nur noch Böen sowie Regengüsse nach Okinawa tragen.

Ein Besuch der prächtigen weissen Sandstrände auf der Hauptinsel oder einer der kleinen Inselgruppen ausserhalb mit einem Sprung ins glasklare Wasser ist damit vom Tisch. Wenn Mawar auf Naha trifft, stehen Flugzeuge, Fähren und die Monorail still.

Die Inseln Okinawas betören durch klares Wasser und einsame Sandstrände.

Obwohl sich die Sonne nicht mehr durch die dicken Wolken zwängen kann, ist es schwül. Wenn die Luftfeuchtigkeit über 80 Prozent steigt, bleibt im Wohnzimmer Brunos Uhr stehen. Dann muss er die Fenster öffnen, sonst breitet sich drinnen der Schimmel aus. An solchen Tagen kann man diesen förmlich riechen.

Woher kam der Drang, auszuwandern? Seit ihm ein Kollege an der ETH blumig von einer Reise in das Land der aufgehenden Sonne erzählt hat, prägt sich das in Brunos Kopf ein. Kurz vor der Jahrtausendwende macht er ein einjähriges Sabbatical in Tokio. Seither besucht er Japan jährlich – auch wegen des Aikido, Karate und der Schwertkunst.

Die japanische Kampfkunst begleitet den Aargauer schon fast sein ganzes Leben lang.

20 Jahre lang lebt Bruno mit seiner damaligen Partnerin in Holland. Sie will keine Kinder, die Beziehung lebt sich auseinander, doch die beiden sind heute noch befreundet.

In dieser Zeit erzählen ihm zwei Kollegen von ihren Besuchen an der Universität von Okinawa. Mit einem Recruiter vereinbart Bruno danach ein Gespräch. Aus der Stunde, die für das Videointerview eingeplant war, werden drei. Am Ende sagt der Mann: «Hör zu, ich möchte dich bei uns haben – aber es ist keine Stelle frei.»

Trotzdem bereitet sich Bruno darauf vor, sollte ein neuer Job in der Mikroskopie geschaffen werden. Und tatsächlich: 2017 erhält er die Chance, sich auf Okinawa persönlich vorzustellen.

Ohne grosse Erwartungen verbringt er einige Tage auf der Insel, geht mit seiner künftigen Chefin schnorcheln – und erhält tatsächlich eine Stelle am prestigeträchtigen OIST.

Es zischt und dampft. In der Mikroskopie hat Bruno, der gerne in Flipflops unterwegs ist, seine Berufung gefunden.

Die Universität organisiert dem Aargauer eine Wohnung, die Arbeitsbewilligung und alle nötigen Dokumente. «Alles war fantastisch geregelt, allein hätte ich es nicht geschafft.»

Er jagt ein tückisches Bakterium

Noch ist der Taifun weit weg. An einem Sonntagvormittag will Bruno mir «seine» Insel zeigen. Die vielen Burgruinen, die vom früheren Königreich Ryukyu zeugen. Die Grabstätten der beiden Götter, die Okinawa der Legende nach erschaffen haben.

Er führt auch zu einer Grube, in der bei der Invasion der Amerikaner im Zweiten Weltkrieg 1945 viele Zivilisten ermordet worden sind – nicht nur von den Amerikanern, sondern auch von der eigenen kaiserlichen Armee –, und zu einem Tunnelsystem, in dem Hunderte Einheimische überlebt haben.

«Wenn ich Leute wie diese treffe, vergesse ich die Zeit», sagt der 67-Jährige.

In einem kleinen Café auf einer Wiese, die von Hügeln und Wäldern umgeben ist, kommt Bruno mit einer jungen Frau und einem Mann ins Gespräch. Obwohl er von sich behauptet, er spreche nur schlecht Japanisch, unterhält er sich mit ihnen fast eine Stunde lang.

Später sagt er: «Wenn ich Leute wie diese treffe, vergesse ich die Zeit.» Sowieso unterhält sich der Auslandschweizer gerne mit den Okinawern, schwatzt mit ihnen im Restaurant oder an der Supermarktkasse.

«Die Menschen hier sind wunderbar, herzlich und freundlich. Sobald sie dich zum Essen bei sich zu Hause einladen, gehörst du quasi zur Familie.» In der lokalen Sprache heisst das «Ichariba choodee» – «sobald wir uns treffen und reden, sind wir Brüder und Schwestern».

Die japanische Küche hat es dem Schweizer angetan. Dafür geht er gerne in ein Izakaya, eine lokale Kneipe.

Als am Montag wieder die Arbeit an der Uni ruft, ist Bruno um sieben Uhr aus dem Haus. 20 Minuten fährt er entlang der Küste, bis er den Campus erreicht. Unterwegs sei er von einer Landschaft umgeben, für die andere in die Ferien reisten, findet er.

Das Universitätsgelände ist ein Prunkstück japanischer Architektur. Die Regierung hat viel Geld investiert, um der wirtschaftlich schwächsten Provinz einen Schub zu verleihen.

Im Mikroskopie-Labor wartet Brunos Kollegin, mit der er Proben einer Art Plankton untersucht, um herauszufinden, wie sich diese unter CO2-Bedingungen verändern.

Um Zellen in einer 3-D-Struktur darstellen zu können, werden die Proben auf kleine Metallplättchen gegeben, die dann in eine Plastikhalterung geklebt werden. Diese klemmt er in einen Hochdruck-Gefrierer, der von seinem Doktorvater an der ETH erfunden worden ist.

Die Maschine erlaubt es, Zellen einzufrieren, ohne dass sich Eiskristalle bilden. Die Zellen dürfen nicht austrocknen. Die Maschine zischt, kalter Rauch steigt auf. Bruno löst die Metallplättchen aus der Halterung, um sie in eine Styroporkiste mit Flüssiggas zu packen.

Manche Geräte im Labor kosten umgerechnet bis zu eine halbe Million Franken, die Mikroskope bis zu acht Millionen. Mit ihnen kommt der Professor auch einem Bakterium auf die Spur, das sich in stillen Gewässern vermehrt, über Wunden in den Blutstrom gelangen und die Niere attackieren kann – bis hin zum Organversagen.

Beim Untersuchen der Proben ist eine ruhige Hand gefragt.

Zu Beginn der Pandemie hat er mit seinem Mikroskop auch schon die Durchlässigkeit von Leichensäcken bezüglich Coronaviren untersucht.

Hierbleiben oder weit wegziehen?

Bei seiner Arbeit braucht Bruno viel Geduld und ruhige Hände. Er hält kurz inne und sagt: «In der Elektronenmikroskopie funktioniert oft vieles nicht – aber man darf nie aufgeben.»

Das jahrelange Training im japanischen Kampfsport hilft ihm, geduldig zu bleiben. Der 67-Jährige sagt, er sei viel entspannter und ausgeglichener geworden. «Je mehr ich lerne, meine Kraft einzusetzen, desto friedlicher werde ich.»

Ganz in der Nähe von Brunos Wohnort befindet sich eine Burgruine des früheren Königreichs Ryukyu.

Teilweise sei die Zusammenarbeit mit den japanischen Kollegen anspruchsvoll; die fernöstliche Bürokratie hindere sie in ihrer Entfaltung. Er ist einer, der nicht gerne organisiert, dafür aber umso besser improvisiert. Anders als die Einheimischen: «Japaner sind oft nicht fähig oder willig, Entscheidungen zu treffen – das merke ich auch hier am Institut.»

Lange ist der Aargauer nicht mehr beim OIST angestellt. Bald wird er als Leiter der Mikroskopieabteilung pensioniert. Wie soll es weitergehen?

Bleibt er auf Okinawa, lernt weiter Japanisch und eröffnet eine eigene Aikido-Schule? Am liebsten trainiert er mit dem Schwert, zu Hause hat er eine ganze Waffensammlung stehen – inklusive Sackmesser, dessen Besitz hier eigentlich gar nicht erlaubt ist. «Doch ich bin ein Schweizer Bub und lasse mir das nicht wegnehmen.»

Oder der gebürtige Wettinger schlägt einen ganz anderen Pfad ein: Brasilien!

Aus Südamerika hat er zwei Jobangebote erhalten, die ihn vor die Wahl stellen, nochmals etwas Neues zu wagen. Bruno sitzt abends im Wohnzimmer auf dem zusammengefalteten Futon an einem Tischchen und gönnt sich einen Schluck Awamori. Der Reisschnaps aus Okinawa wird, anders als Sake, destilliert und nicht gekocht.

In der Wohnung von Bruno stapeln sich Bücher und Andenken seiner Reisen, am Boden reihen sich Reisschnapsflaschen aneinander. Seit kurzem ist er diplomierter Sake-Sommelier.

Okinawa mitten im Tropensturm. Die Menschen in der Hauptstadt Naha sind Wind und Regen gewohnt.

Welchen Weg soll er nehmen? Er weiss es nicht. Europa ist für ihn keine Option mehr, Holland sei ihm zu eng, zu kalt und zu grob im Umgang. In Japan könnte er ein geruhsames Leben führen und sich finanziell durchschlagen. Er sei sparsam und erhalte etwas Rentengeld nicht nur aus der Schweiz, sondern auch aus Holland und Deutschland, wo er gearbeitet hat.

In Brasilien dagegen lockt nochmals ein Abenteuer. 2010 war er in Rio de Janeiro für eine Tagung, und obwohl ihm bisher die amerikanischen Kontinente wenig zugesagt haben, ist er von Land und Leuten begeistert.

Bis zur Corona-Pandemie hat er immer wieder an den Universitäten von Rio de Janeiro und Belo Horizonte unterrichtet. «All diese verschiedenen Kulturen, die dort koexistieren – das würde mir schon gefallen.»

Vorerst widmet sich Bruno seiner Forschungsarbeit am Institut in Okinawa und in der Freizeit dem Schwertkampf, Karate und Aikido.

Bei seinem Auftritt in der Aula im traditionellen Dogi – weisses Kleid, schwarzer Rock und Gewand – zeigt er mit schnellen, klaren Bewegungen, wie aus dem einstigen Kampfsportschüler ein Meister geworden ist.

Als Bruno Humbel wenig später draussen vor dem Eingang an der frischen Luft sitzt, zieht er für eine Mutter und ihr staunendes Kind sein Schwert aus der Scheide. Die Klinge funkelt im Sonnenschein.

Wüsste man es nicht besser, man würde diesen Mann für einen echten Samurai halten.